Sunday 22 May 2016

Austrian Elections 2016


Die Hoferisierung Österreichs

Norbert Hofers Aufstieg ist kein Zufall. Er ist die direkte Folge einer konsequenten Verdrängungs- und Beschönigungskultur von 1945 bis heute 

Der Aufstieg Norbert Hofers ist der vorläufige Höhepunkt einer langen Reihe von Ereignissen in Österreichs Nachkriegsgeschichte, die von einer latent autoritären und menschenverachtenden Grundstimmung in der Gesellschaft zeugen. Er läuft damit dem seit der Wahl Kurt Waldheims sich wandelnden Geschichtsverständnis entgegen, das die herrschende "Opferthese" zwar verspätet, aber radikal infrage gestellt hat. 

Gefährlicher aber noch als Hofers NS-Dünkel ist, dass sich sein Gedankengut aus dem immer noch nicht ausgetrockneten Sumpf nährt, aus dem Faschismus und Diktatur in Österreich bereits vor Hitler entstanden sind. Sein Vorgehen, das sich schlicht als "systemkritisch" gibt, ist ungleich salonfähiger als eines, das das althergebrachte Nazi-Instrumentarium und ewiggestrige Wählerschichten direkt bedient. Die "Neue Rechte" hat zwar ihre Strategie geändert, aber nicht ihre Ziele: Sie strebt weiterhin einen staatlich-gesellschaftlichen Umbau im autoritären Sinne an. 

Der rote Faden Österreichs Exakt dreißig Jahre nach der heißumstrittenen Wahl Waldheims zum Bundespräsidenten markiert der Wahlsieg des FPÖ-Kandidaten Hofer im ersten Wahlgang den vorläufigen Höhepunkt einer langen Reihe von Ereignissen, die von einer autoritären und menschenverachtenden Grundstimmung in der Gesellschaft zeugen und die sich wie ein roter Faden durch Österreichs Nachkriegsgeschichte ziehen. 


ARD Satire - Oesterreichs rechts Ruck @ Image ARD
Dem flüchtigen Beobachter mögen diese Vorkommnisse als isolierte Ereignisse erscheinen, doch sie kehren mit längst überwunden geglaubter Regelmäßigkeit immer wieder zurück. Der Bogen der Skandale spannt sich dabei von der Kontroverse um den NS-Historiker Taras Borodajkewycz (1965), den fünf ehemaligen Nationalsozialisten im Kabinett Kreisky I (1970), der Affäre Kreisky-Peter-Wiesenthal (1975), der Affäre Reder-Frischenschlager (1985), der Wahl Waldheims zum Bundespräsidenten (1986), den zum NS-Apologetismus und der Daueragitation neigenden Jörg Haider der 90er-Jahre, bis zu dem jahrelangen Streit um die Restitution beschlagnahmter Gemälde (1998–2005). Letztlich mündete all dies in die schwarz-blaue ÖVP-FPÖ-Koalition von Haiders Gnaden (2000–2006), die zu den sogenannten EU-Sanktionen führte und deren Folgen die Republik noch heute abarbeitet. 

Schlussstrich oder nicht 

Die Öffentlichkeit befindet sich damit seit mehr als 30 Jahren in einer Art permanenter politischer Erregtheit, die teils real gefühlt und teils von der FPÖ hochgepeitscht wurde. Es herrscht das Bedürfnis vor, "nicht schon wieder" an diesem Thema zu rütteln und "endlich einen Schlussstrich" zu ziehen. Die breite Masse fühlt sich oft zu Unrecht unter ständigem Verdacht und übermäßig geläutert. In voller Konsequenz wird daher auch jedweder Anflug von Political Correctness verschmäht und stattdessen trotzig ein Vokabular propagiert, das Gut und Böse in deren Gegensatz kehrt und sinnentleert – zum Beispiel "Tugendritter", "Gutmenschen", "Willkommenskultur". 

Und nun Hofer. Der Kandidat, der das Verbotsgesetz aufheben möchte, das Kriegsende als Trauertag begreift, sich zum Deutschtum bekennt, dessen Burschenschaft "die Fiktion einer österreichischen Nation" ablehnt und der droht, als Bundespräsident die Regierung zu entlassen, sollte sie nicht seinen Vorstellungen entsprechen. Er wird von seinen vielen Anhängern als normal und erfrischend empfunden und auf keinen Fall als einer, vor dem man Angst haben müsse. Doch sein Aufstieg ist kein Zufall: Er ist die direkte Folge einer konsequent gewollten Verdrängungs- und Beschönigungskultur, die den unzweideutigen Hintergrund für die zahlreichen Skandale von 1945 bis heute bildet. 

Dass es auch ganz anders gehen kann, bewies der deutsche Bundespräsident Friedrich von Weizsäcker, der schon 1985 in seiner Rede zum 50. Jahrestags des Kriegsendes durchaus andere, vielbeachtete Worte fand. Und bereits in den Jahren 1963 bis 1965 fanden vor deutscher Gerichtsbarkeit die kathartischen Frankfurter Auschwitz-Prozesse statt, die der Bevölkerung bildlich und rechtlich die Gräuel des von ihr unterstützten, mitgetragenen oder geduldeten Regimes vor Augen führten. 

Der Opfermythos 

Wie es zu dieser völlig anderen Haltung in Österreich kommen konnte, ist ausreichend durch die zeitgeschichtliche Wissenschaft dokumentiert. Es war der sogenannte Opfermythos, der auf der Moskauer Deklaration von 1943 aufbaute und nach dem Kriege nicht nur die politische Rehabilitation, sondern auch die österreichische Nationsbildung ermöglichte. 


ZDF Satire zu Oesterreichs Presidenten Wahlen
Im nationalen Verständnis kam es dadurch zu einer Umkehr der Opfer-Täter-Rolle, während auf der individuellen Ebene das Schlüpfen in die Opferrolle einen unmittelbaren Schutz vor dem Verdacht, Nazi gewesen zu sein, bedeutete. Das sich so entwickelnde kollektive Gedächtnis festigte sich über die Jahre, exkulpierte die Mitglieder der Kriegsgeneration oder bewahrte sie zumindest vor einer unliebsamen Konfrontation. In der Folge entwickelte das Land zwar bestenfalls eine gewisse Scham für das Geschehene, empfand jedoch keine Schuld. Diese "schuldlose Scham" führte aber auch dazu, dass keine Sühne geleistet werden musste. 

Wandelndes Geschichtsverständnis 

Dennoch kam es während der 80er-Jahre letztlich zu einer Generationenablöse, durch die die Wirkungsmacht der direkten Erfahrung in der kollektiven Erinnerung an Kraft zu verlieren begann. Diese geschichtskulterelle Veränderung war keine isolierte österreichische Angelegenheit, sondern fand in einem internationalen Umfeld statt, in dem der Holocaust immer deutlicher zum Referenzpunkt des kollektiven Gedächtnisses des 20. Jahrhunderts wurde. 

Die heimische Erinnerungskultur passte sich nur langsam an dieses neue, internationale Verständnis an. So deckte sich Waldheims berüchtigter Satz "Ich habe im Krieg nichts anderes getan als hunderttausende Österreicher auch, nämlich meine Pflicht als Soldat erfüllt" noch vollends mit dem Verständnis der Kriegsgeneration und teilweise auch mit dem der nachfolgenden Generation, die von einem nur mangelhaft denazifizierten Lehrer- und Politikerkorpus in den 50er- und 60er-Jahren sozialisiert worden war. Und so wurde Waldheim als Verkörperung von Österreichs Nachkriegslebenslüge 1986 mit einer Mischung aus Beleidigung und Trotz "Jetzt erst recht" (Kampagnenslogan) zum Bundespräsidenten gewählt. 

Nichtsdestotrotz wurde der Fall Waldheim letztlich zu einem Katalysator für das sich wandelnde Geschichtsverständnis Österreichs, das die vorherrschende Staats- und Lebenslüge von der Rolle Österreichs als erstem Opfer nationalsozialistischer Aggression radikal infrage stellte. Während der folgenden 20 Jahre kam es zu einer wachsenden Akzeptanz der Mitverantwortung vieler Österreicher an der Täterschaft im NS-Staat, wenn auch das offizielle Österreich den Opferstatus nie ganz aufgeben wollte. 

Versteinerte Denkprozesse 

Ungeachtet dieser Wandlung im offiziellen Geschichtsverständnis, gelang es Haider, der 1986 in einer Kampfabstimmung die Obmannschaft der FPÖ errungen hatte, die vormals latenten, nun aber im Zuge der Waldheim-Kampagne offen aufgebrochenen Gefühle der uneingestandenen Scham, aber auch des ungebrochenen Trotzes durch unzählige provokante Sager, die das NS-Regime, die (Waffen-)SS und die Taten der Kriegsgeneration beschönigten, zu kanalisieren. Dazu schürte er unter anderem Ressentiments gegen "das System" (in aufgewärmter Nazi-Diktion "die Altparteien") und den Hass auf "Fremde". 

So kam es, dass trotz des Wandels im institutionalisierten Geschichtsverständnis Österreichs für weite Teile der Bevölkerung eine offene Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und den Verstrickungen, in denen sich viele befanden, weiterhin ausblieb. Ebenso blieb das moralische Problem der individuellen Scham beziehungsweise Schuld für viele unausgesprochen und ungelöst. 

Neue Strategie, alte Ziele 

In dieses Gedankenfeld stößt nun Präsidentschaftskandidat Hofer. Was unterscheidet ihn von seinen Mitstreitern? Obwohl Hofer seine Deutschtümelei vielleicht sogar mit mehr Überzeugung zur Schau trägt als selbst Haider oder Heinz-Christian Strache, ist sie bei ihm kein wesentliches Element des Wahlkampfes. Seine Anhänger begeistern sich für ihn wahrscheinlich zumindest ebenso sehr trotz seiner Burschenschaftmitgliedschaft wie deshalb. Stattdessen sehen sie ihn als einen von sich, einen, der es "denen da oben" zeigen wird. Hofer hat erkannt, dass allzu offenes Liebäugeln mit Nazithemen nicht mehr opportun und mehrheitsfähig ist. Der Generationenwechsel und das sich wandelnde Geschichtsverständnis haben endlich auch die österreichische politische Kultur erreicht. 

Aber der gedankliche Sumpf, dem die NS-Diktatur und ihre Gräueltaten letztlich entsprangen, brodelt mangels einer breiteren Auseinandersetzung weiter. Und in ihm fischen die neuere FPÖ und Hofer ungebrochen. Plumpe Anspielungen auf Hitler, die SS, die Wehrmacht und so weiter sind leicht zu enttarnen. Aber blauäugige, von einem Unschuldslächeln begleitete Warnungen vor einer Überlastung des Sozialsystems durch weitere Zuwanderung oder Asylwerber sind weniger offensichtlich. Die Zersetzung des öffentlichen Vertrauens in staatliche Institutionen und Parteien durch scheinbar legitime Systemkritik ebenso wenig. 

Die Verhetzung von Medien und individueller Journalisten ist in dem von der FPÖ aufgepeitschten Klima schon fast zur Normalität geworden. Die Rechte ist schlauer geworden; sie braucht die Ewiggestrigen (fast) nicht mehr. Sie pilgert stattdessen nach Yad Vashem, um sich staatsmännisch zu geben. Gegen Vorwürfe des gesellschaftlich verpönten Antisemitismus wehrt sie sich damit, dass man nicht "immer die Nazikeule schwingen" möge. 

In sich gewandtes System 

Diese "Neue Rechte" hat ihre Strategie geändert, nicht aber ihre Ziele. In Österreich strebt sie seit Haider eine Dritte Republik an, die in einer neuen Regierungs-, wenn nicht Staatsform, enden soll. Diese wird ein abgeschottetes, in sich gewandtes System sein, das ironischerweise die Segnungen, die eine vormals offene Politik dem Land gebracht hat, bewahren soll. Es wird ein autoritäres, zentral gelenktes, unfreieres und weniger demokratisches System sein. Minderheiten würden wohl zu Bürgern zweiter Klasse mit eingeschränkten Rechten degradiert. 

Die politische Zukunft Österreichs unter einer FPÖ-Führung kann bereits heute in Ungarn und Polen beobachtet werden. Seine wirtschaftliche Zukunft in Kärnten. Da kann Hofer noch so treuherzig in die Kamera lächeln. 


Von Michael Hart. via Der Standard 

Herr Hart ist Ökonom und Marktstratege, ausgebildet an der London School of Economics und der Columbia-Universität. Derzeit arbeitet er als Chefökonom bei einem Fonds in London. Dieser Beitrag erschien in einer Langfassung in seinem Blog macroathart.com. 

Thursday 5 May 2016

BRAZIL


60% of Brazilians Think VP Michel Temer Should be Impeached







Sunday 1 May 2016

BRAZIL - SILENT COUP


To See the Real Story in Brazil, Look at Who Is Being Installed as President — and Finance Chiefs

IT’S NOT EASY for outsiders to sort through all the competing claims about Brazil’s political crisis and the ongoing effort to oust its president, Dilma Rousseff, who won re-election a mere 18 months ago with 54 million votes. But the most important means for understanding the truly anti-democratic nature of what’s taking place is to look at the person whom Brazilian oligarchs and their media organs are trying to install as president: the corruption-tainted, deeply unpopular, oligarch-serving Vice President Michel Temer (above). Doing so shines a bright light on what’s really going on, and why the world should be deeply disturbed.   

The New York Times’s Brazil bureau chief, Simon Romero, interviewed Temer this week, and this is how his excellent article begins:
RIO DE JANEIRO — One recent poll found that only 2 percent of Brazilians would vote for him. He is under scrutiny over testimony linking him to a colossal graft scandal. And a high court justice ruled that Congress should consider impeachment proceedings against him.
Michel Temer, Brazil’s vice president, is preparing to take the helm of Brazil next month if the Senate decides to put President Dilma Rousseff on trial.
How can anyone rational believe that anti-corruption anger is driving the elite effort to remove Dilma when they are now installing someone as president who is accused of corruption far more serious than she is? It’s an obvious farce. But there’s something even worse.

The person who is third in line to the presidency, right behind Temer, has been exposed as shamelessly corrupt: the evangelical zealot and House speaker Eduardo Cunha. He’s the one who spearheaded the impeachment proceedings even though he got caught last year squirreling away millions of dollars in bribes in Swiss bank accounts, after having lied to Congress when falsely denying that he had any accounts in foreign banks. When Romero asked Temer about his posture toward Cunha once he takes power, this is how Temer responded:
Mr. Temer defended himself and top allies who are under a cloud of accusations in the scheme. He expressed support for Eduardo Cunha, the scandal-plagued speaker of the lower house who is leading the impeachment effort in Congress, saying he would not ask Mr. Cunha to resign. Mr. Cunha will be the next in line for the presidency if Mr. Temer takes over.
 By itself, this demonstrates the massive scam taking place here. As my partner, David Miranda, wrote this morning in his Guardian op-ed: “It has now become clear that corruption is not the cause of the effort to oust Brazil’s twice-elected president; rather, corruption is merely the pretext.” In response, Brazil’s media elites will claim (as Temer did) that once Dilma is impeached, then the other corrupt politicians will most certainly be held accountable, but they know this is false, and Temer’s shocking support for Cunha makes that clear. Indeed, press reports show that Temer is planning to install as attorney general — the key government contact for the corruption investigation — a politician specifically urged for that position by Cunha. As Miranda’s op-ed explains, “The real plan behind Rousseff’s impeachment is to put an end to the ongoing investigation, thus protecting corruption, not punishing it.”
But there’s one more vital motive driving all of this. Look at who is going to take over Brazil’s economy and finances once Dilma’s election victory is nullified. Two weeks ago, Reuters reported that Temer’s leading choice to run the central bank is the chair of Goldman Sachs in Brazil, Paulo Leme. Today, Reuters reported that “Murilo Portugal, the head of Brazil’s most powerful banking industry lobby” — and a long-time IMF official — “has emerged as a strong candidate to become finance minister if Temer takes power.” Temer also vowed that he would embrace austerity for Brazil’s already-suffering population: He “intends to downsize the government” and “slash spending.”
In an earning calls last Friday with JP Morgan, the celebratory CEO of Banco Latinoamericano de Comercio Exterior SA, Rubens Amaral, explicitly described Dilma’s impeachment as “one of the first steps to normalization in Brazil,” and said that if Temer’s new government implements the “structural reforms” that the financial community desires, then “definitely there will be opportunities.” News of Temer’s preferred appointees strongly suggests Mr. Amaral — and his fellow plutocrats — will be pleased.
Meanwhile, the dominant Brazilian media organs of Globo, Abril (Veja), Estadão — which Miranda’s op-ed discusses at length — are virtually unified in support of impeachment, as in No Dissent Allowed, and have been inciting the street protests from the start. Why is that revealing? Reporters Without Borders just yesterday released its 2016 Press Freedom Rankings, and ranked Brazil 103 in the world because of violence against journalists but also because of this key fact: “Media ownership continues to be very concentrated, especially in the hands of big industrial families that are often close to the political class.” Is it not crystal clear what’s going on here?
So to summarize: Brazilian financial and media elites are pretending that corruption is the reason for removing the twice-elected president of the country as they conspire to install and empower the country’s most corrupted political figures. Brazilian oligarchs will have succeeded in removing from power a moderately left-wing government that won four straight elections in the name of representing the country’s poor, and are literally handing control over the Brazilian economy (the world’s seventh largest) to Goldman Sachs and bank industry lobbyists.
This fraud being perpetrated here is as blatant as it is devastating. But it’s the same pattern that has been repeatedly seen around the world, particularly in Latin America, when a tiny elite wages a self-protective, self-serving war on the fundamentals of democracy. Brazil, the world’s fifth most populous country, has been an inspiring example of how a young democracy can mature and thrive. But now, those democratic institutions and principles are being fully assaulted by the very same financial and media factions that suppressed democracy and imposed tyranny in that country for decades.

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Glenn Greenwaldglenn.greenwald@​theintercept.com