Ottoman Empire Coat of Arms |
MIT ALLER GEWALT
Ankara ist
auf der Suche nach seiner Rolle in der Region. Jetzt muss sich Erdogan mit den
alten Feinden ISRAEL und KURDISTAN auseinandersetzen, will er seine Stellung im
Nahen Osten wahren.
Nachdem SYRIEN
im vergangenen Juni einen türkischen Kampfjet abgeschossen hatte, wurden in ISRAEL
Stimmen laut, denen zufolge der Abschuss den TÜRKEN gerade recht kam: Ankara
suchte nur nach einer militärischen Legitimation, um selbst eine bewaffnete
Intervention in SYRIEN zu starten.
In dieses Kalkül passte der Angriff
natürlich perfekt. Und sollte der Zwischenfall nicht ausgereicht haben, dann
gab es spätestens mit dem tragischen Vorfall vor einigen Tagen ausreichend
Zündstoff für weitere Aggressionen: Fünf Zivilisten, darunter drei Kinder, wurden
bei dem Angriff auf die TÜRKISCHE Grenzstadt Akçakale durch Mörsergranaten
getötet.
Prompt
entschuldigte sich SYRIEN und erklärte der UN, dass es sich um einen Unfall
gehandelt habe. Trotzdem war der politische Schaden zu groß, um den Vorfall mit
einem Pressestatement glattzubügeln: Das Parlament in Ankara segnete kurz
darauf ein Gesetz ab, dass es der TÜRKEI erlaubt, „im Verteidigungsfall“
militärisch zu intervenieren, auch jenseits der eigenen Grenze.
ANKARA UND DAS STREBEN NACH EINFLUSS
Klar ist,
dass die TÜRKEN eine dominantere Rolle im SYRISCHEN Konflikt spielen wollen,
sei es mit diplomatischen oder militärischen Mitteln. Diese Entscheidung ist
von zentraler Bedeutung, weil sie signalisiert, worauf die TÜRKISCHE Strategie
im NAHEN OSTEN hinausläuft. In letzter Zeit hatte Premier Recep Tayyip Erdogan
mit einer Art „neo-ottomanischen“ Plan auf sich aufmerksam gemacht, den sein
Außenminister Ahmet Davutoglu ausgearbeitet hatte. Die TÜRKISCHE
Strategie war es immer, sowohl wirtschaftlich als auch politisch an Einfluss zu
gewinnen.
Mit Nachdruck hat die Regierung in Ankara beispielsweise die
Handelsbeziehungen zu den südlichen Nachbarn intensiviert – und das nicht
zufällig. Bis zur Eskalation des Konflikts vor eineinhalb Jahren sahen viele
Beobachter SYRIEN als „die TÜRKEI vor 30 Jahren“, ein Land voller Potenzial.
Dieses Potenzial wollte Ankara nutzen.
Politisch
wollte man sich gleichzeitig als Musterbeispiel einer islamistisch-demokratischen
Alternative zum IRAN darstellen. Die Abstecher türkischer Handelsflotten in den
Gaza-Streifen zahlten auf diese Taktik ein: Primär waren die Fahrten als
humanitäre Expeditionen zum Nutzen der Palästinenser geplant, aber natürlich
wollte Ankara damit auch ISRAEL diskreditieren und für seine Vormachtstellung
in der Region werben. Zudem hoffte man in der TÜRKEI darauf, die Beziehungen zu
RUSSLAND zu verbessern: Neben Kooperation in Energiefragen (die TÜRKEI ist die
Schlüsselstelle zwischen Ost und West) träumte Erdogan schon lange von engerer
politischer Zusammenarbeit, ungeachtet der zahlreichen Kriege, die beide Länder
in den vergangenen Jahrhunderten angezettelt haben.
GESCHEITERTER NEO-OTTOMANISMUS
Doch allen
Bemühungen zum Trotz ist der Neo-Ottomanismus gescheitert. Es ist immer
deutlicher geworden, dass der „ARABISCHE Frühling“ kaum frühlingshaft war, und
außerdem eher „islamistisch“ als arabisch. Es ist ein Islamismus, aus dem sich
kein konfessionsübergreifendes Bekenntnis zu Frieden und Liebe ableiten lässt,
sondern der lokal (beinahe auf Stammesebene) verharrt. In ÄGYPTEN, TUNESIEN und
LIBYEN werden vor allem Eigeninteressen verfolgt – auf die TÜRKEI schaut dort
niemand. In den anderen Ländern der arabischen Welt, in den alten sunnitischen
Königreichen, mit oder ohne Ölreichtum, regiert ohnehin schon seit dem Ende der
„richtigen“ arabischen Revolution 1918 der Konservativismus.
Ein
Zwischenfall illustriert die Machtlosigkeit der TÜRKEI: Als ISRAEL die
Handelsflotte auf dem Weg von der TÜRKEI nach Gaza stoppte, sprang aus der
Kontroverse nicht einmal etwas für die TÜRKEI heraus. Neben Friedensaktivisten waren auch mehrere Vertreter der Muslimbrüder
an Bord. Zwar gibt es auch unter den Islamisten gemäßigte Fraktionen, doch
die Einstellung der Muslimbrüder ist zumindest zweifelhaft. Konservative
Quellen aus den USA und aus ISRAEL behaupten,
dass es den Muslimbrüdern vor allem um das Knüpfen von Kontakten zur Hamas
gegangen sei. Egal ob die Vorwürfe stimmen: ISRAEL war verärgert und die TÜRKEI
konnte keine eigenen Erfolge vorweisen.
GELD STATT ABENTEUER
An diesem
Beispiel wird auch deutlich, wie eng politischer und wirtschaftlicher Erfolg
der TÜRKEI verzahnt sind – und welche Rolle ISRAEL spielt. Nach der
Verschärfung der Sanktionen gegen den IRAN und nach dem Ausbruch mehrerer
Bürgerkriege in der Region war ISRAEL das einzige Land, das weiterhin blühende
Handelsbeziehungen mit der TÜRKEI hatte – und das, obwohl Erdogan sein Bestes
tat, um eine enge Zusammenarbeit zu verhindern. Fröhlich erklärte er im
September 2011, dass er dabei sei, „jedes militärische oder
wirtschaftliche Abkommen mit ISRAEL zu suspendieren“. Der bilaterale Handel
boomte trotzdem und stieg im Jahr 2011 sogar über die Marke von vier Milliarden
US-Dollar. Mehr noch: Bis die israelischen Streitkräfte eines der nach Gaza
fahrenden Schiffe, die „Mai Marmara“, am 31. Mai 2012 angriffen, wuchs der ISRAELISCH-TÜRKISCHE
Außenhandel um mehr als ein Drittel. Tourismus ist da noch nicht einmal mit
eingerechnet: Eine halbe Million junger ISRAELIS verbrachte ihren Urlaub bisher
jedes Jahr in den TÜRKISCHEN Massenressorts voller Fastfood und Nachtclubs.
Jetzt ist diese Zahl auf 60.000 gefallen – zum Missfallen der Unternehmer in
Bodrum oder Antalya: Ihnen geht es um das Geld ISRAELISCHER Touristen, nicht um
waghalsige maritime Abenteuer der eigenen Regierung.
Hintergrund Informationen:
Israeli
Exports to Turkey rise 42% to equal exports to Germany
The two countries recently signed a cooperation agreement
relating to the protection of natural gas drilling sites
The
visit comes against a backdrop of worsening relations between ISRAEL and TURKEY
following the May 2010 TURKISH flotilla
incident, which is cited as the official reason for the rift between the
countries but in reality it has always been because of the gas and oil findings
and TURKEY’s double edged strategies of recent past.
DIE ÖKONOMISCHE SITUATION MACHTE ES
NUN SOGAR NOTWENDIG, DIE HALTUNG GEGENÜBER DER KURDISCHEN MINDERHEIT ZU
ÜBERDENKEN
Im Übrigen
genießt die TÜRKEI einen Exportüberschuss gegenüber ISRAEL. Es wäre wenig
durchdacht, diesen wachsenden Markt – einen der wenigen funktionierenden Märkte
in der Region – zu gefährden. Die ökonomische Situation machte es nun sogar
notwendig, die Haltung gegenüber der KURDISCHEN Minderheit zu überdenken. Die TÜRKEI
versucht, sich vor allem mit den im IRAK lebenden KURDEN gut zu stellen, und
überdenkt daher auch die Behandlung der KURDISCHEN Minderheit im eigenen Land.
Dank der föderalen Struktur des IRAKS können nun auch Ölabkommen ausschließlich
mit dem NORDIRAK getroffen werden, ohne sich mit den chaotischen Strukturen der
Zentralregierung in Bagdad auseinandersetzen zu müssen. TÜRKISCHE Firmen
beziehen das Öl von IRAKISCHEN Kurden, raffinieren es und verkaufen es dann
zurück oder pumpen es in Richtung der eigenen Verbraucher.
Hintergrund Informationen:
TURKEY'S
GAMBLE ON KURDISTAN OIL
Doch allen TÜRKISCHEN
Annäherungsversuchen zum Trotz haben KURDISCHE Organisationen – und vor allem
die PKK – weiterhin wenig Sympathie für Ankara. Die PKK argumentiert, dass es
trotz einiger Zugeständnisse keine Einigung bei den wirklich wichtigen Fragen
von politischer Repräsentation und Autonomie gibt. Vorigen August hat die
Organisation sogar eine TÜRKISCHE Polizeistation nahe Sirnak mit Granaten
angegriffen – und das ist lediglich ein Beispiel für die seit Jahren wachsenden
Spannungen. Es überrascht nicht, dass jetzt Gerüchte laut werden, SYRIEN habe
die KURDISCHEN Rebellen unterstützt und ihnen beispielsweise Waffen geliefert
oder Ausbildungslager organisiert.
DIE TÜRKEI UND DIE REALPOLITIK
Und RUSSLAND?
Erdogan war sicherlich bewusst, dass er sich in der SYRIEN-Frage nicht auf
Moskau verlassen kann, gerade wegen der russischen Interessen in der Region.
Israel zu schwächen würde ihm deshalb nicht dabei helfen, die Fühler bis nach JORDANIEN
oder ÄGYPTEN auszustrecken. Vielmehr würde es dazu beitragen, die Position der
Hisbollah im SÜDLIBANON zu stärken – also genau die Gruppe, die Assad als IRANISCH-RUSSISCHE
Puppe im Amt hält. Es ist kein Zufall, dass der IRAN Hisbollah neuerdings mit
technischem Know-how für den Bau von Drohnen unterstützt, um damit über ISRAELISCHES
Gebiet zu fliegen. Auch in SYRIEN sollen Hisbollah-Kämpfer für das
Assad-Regime aktiv sein.
Insgesamt
muss die TÜRKEI sich immer mehr von ihren „neo-ottomanischen“ Plänen
verabschieden und der Realpolitik zuwenden. Für Erdogan gilt es, sich mit alten
„Feinden“ ISRAEL und KURDISTAN auseinanderzusetzen, um den Schlüssel für den
Nahostkonflikt zu finden. Eine solche Lösung ist politisch und wirtschaftlich
heikel – umso mehr, seitdem wir die Wahrheit über die TÜRKISCHE Wirtschaft und
die hohe Inflationsrate kennen. Es wird sich noch herausstellen, ob der
Versuch, eine islamische Nationalidentität aufzubauen und das kemalistische
Jahrhundert hinter sich zu lassen, eine realistische Perspektive ist.
ByStefano Casertano
Via The European
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